Wie lebensgeschichtliches Erzählen wirkt
«Die Wirksamkeit biographischen Erzählens liegt weniger
in der Bewusstmachung von verdrängten Anteilen
als vielmehr in neuen Sinnsetzungen,
mit denen der Autobiograph sein Leben sehen kann.»
(Gabriele Rosenthal, 1995)
Vom eigenen Leben erzählen, von beglückenden Erlebnissen, Wendepunkten, auch von vermeintlich Banalem oder handkehrum von belastenden Erlebnissen und dem Bewältigen einer schwierigen Phase in der Vergangenheit – solche Erzählmomente und -Gelegenheiten können ganz einfach wohltuend sein. Und oft weiss man gar nicht warum.
Die Forschung belegt: Hört das Gegenüber gut zu – aufmerksam, empathisch, sich selber zurücknehmend auch –, kann das Erzählen weit mehr bewirken. Die erzählende Person kommt zu sich und erweitert sich zugleich. Längst Vergessenes ist plötzlich wieder da. Erinnerungen erhalten Farbe, Konturen, Tiefe. Verworrenes klärt sich. Auf Fragen zur eigenen Person und Geschichte gibt es vielleicht plötzlich Antworten. Vor allem auch: Das eigene Leben kann neue Deutungen erfahren, zuvor unerkannte Ressourcen zeigen sich.
Die Möglichkeit zu haben, das eigene Leben zu erzählen, ist mehr als «nur» eine erfüllende Erfahrung. Lebensgeschichtliches Erzählen heisst auch: Das Narrativ des eigenen Lebens selber gestalten. Ich nehme und gebe mir die Deutungshoheit über mein Leben, meine Geschichte.
Wissenswertes
Verein Hörschatz - Herzensworte hinterlassen
Mit einem Hörschatz, einer sehr persönlichen Audiobiografie, hinterlassen früh verstorbene Eltern ihren minderjährigen Kindern eine Erinnerung für das ganze Leben. In eigenen Worten und individueller Auswahl der Episoden erzählen Palliativ-PatientInnen ihren Familien, was ihnen wichtig ist, was von ihnen bleiben soll. Eine Audiobiografie ist eine Ode ans Leben und die Liebsten vor dem Abschied für immer. Der Verein Hörschatz vermittelt Audiobiografien an betroffene Familien und organisiert die Finanzierung durch Spendengelder und Fundraising.
Nachklang - Erzählungen aus aus dem Leben, damit Erinnerungen lebendig bleiben
Franziska von Grünigen, Audibiografin, Journalistin, Moderatorin, begleitet auf den Streifzug die Erinnerungen und gestaltet daraus eine individuelle Audiobiografie. Zur Website
Hörsendung mit Anna Mitgutsch über ihre Arbeit am Buch «Die Annäherung», einem Familien- und Generationenroman.
In den Büchern der österreichischen Autorin Anna Mitgutsch spielen Erinnerungen eine zentrale Rolle. In ihrem Roman «Die Annäherung» schaut ein fast hundertjähriger Mann zurück auf sein Leben als Underdog, und seine Tochter will unbedingt wissen, welche Rolle er im Zweiten Weltkrieg gespielt hat. Link zur Hörsendung
Verena Kast: Was wirklich zählt, ist das erzählte Leben
Oft können wir im Rückblick auf unser Leben auch in Umwegen oder Abwegen und in Entscheidungen, die Probleme brachten und schmerzvoll waren, etwas Gutes entdecken.
Hier findet ihr den Link zum Vortrag von Verena Kast vom 27. Mai 2022, in Konstanz
Hebamme der eigenen Geschichte
Wenn wir uns erinnern, arbeiten wir an unserem Ich. Je älter wir werden, umso positiver werden die Erinnerungen und damit die Geschichte unseres Lebens. Link
Lesetipps
Nachfolgend empfehlen unsere Mitglieder Bücher, die sich thematisch lebensgeschichtlichem Erzählen zuordnen lassen.

Lesetipp von Sonja Scholz
Samira El-Maawi
Eine Geschichtenerzählerin, die es versteht, der Beziehung zu ihrem Vater und den damit verbundenen Fragen zu Herkunft, Heimat und Diskriminierung einen, manchmal traurigen, Zauber zu verleihen.
“Ich weiss mehr über die Geschichte von Nelson Mandela als über die Geschichte meines Vaters.”
“Das Herz meiner Mutter hat sich über Nacht nach aussen gebogen und ist in ihre Hände gerutscht.”
“Mein Vater versteckte Pläne in sich drin. Wenn ich könnte, würde ich ihn aufklappen und in ihn hineinsteigen, um hinter seine Pläne zu kommen. Dann wäre ich die Eingeweihte meines Vaters.”
Samira El-Maawi bietet auch Schreibangebote an, welche hier zu finden sind.

Lesetipp von Lilian Fankhauser
Fritz Boss, Morgen hole ich dich wieder ab
Am Tag vor dem Bettag 1947, im Alter von neun Jahren, wurde Fritz Boss von seinem Vater auf einen Bauernhof im Seeland im Kanton Bern gebracht. Nachdem er ihn dort abgesetzt hatte, sagte der Vater zu ihm: „Morgen hole ich dich wieder ab.“ Aber er ist nie mehr zurückgekommen.
Fritz ist nicht daran zerbrochen, dass er ein Verdingbub war, nicht so wie viele andere, nicht so wie seine Schwester. «Ich hatte es nicht so schlimm wie viele andere. Ich hatte immer genug zu essen, ass mit der Bauernfamilie am selben Tisch und hatte ein eigenes Zimmer und ein eigenes Bett. Ich bin dankbar dafür, dass ich nicht zerbrochen bin. Dennoch ist es für mich heute ein wichtiger Schritt, über diese Erlebnisse erzählen zu können, erzählen zu dürfen.» Lilian Fankhauser hat diese eindrückliche Lebensgeschichte aufgezeichnet.
Direktbestellung bei Lilian Fankhauser inklusive Versandkosten CHF 16.00 lfankhauser@vfle.ch oder direkt beim Verlag: https://www.bod.ch/buchshop/morgen-hole-ich-dich-wieder-fritz-boss-9783757802769

Lesetipp von Lilian Fankhauser
Michael White: Landkarten der narrativen Therapie (2021)
Michael White erläutert in dieser Sammlung seinen narrativen Ansatz aus seiner therapeutischen Arbeit. Auch für Biograph:innen, die nicht therapeutisch arbeiten, sind diese Ansätze interessant, da dabei die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte zentral ist. White demonstriert anhand von transkribierten Therapiegesprächen, wie die Neuerzählung oder Neugewichtung von bestimmten Lebensereignissen für Menschen mit Traumata, Suchtproblemen oder Verlusterfahrungen einen Wendepunkt darstellen können. Er visualisiert die Lebensgeschichte der Erzählenden in „Landkarten“ und eröffnet ihnen so neue «Territorien», die bis dahin unbekannt waren und neue Lebensperspektiven eröffnen können.

Lesetipp von Lilian Fankhauser
Ein neues Buch gibt konkrete Einblicke in Erzählcafés. Moderator*innen solcher Gruppen sowie Wissenschaftler*innen entwickeln ein Mosaik über Intentionen, Anwendungsfelder, Zielgruppen, Themen, Wirkungen, Gelingensbedingungen und Fallstricke. Das Buch richtet sich an freiwillig Engagierte sowie Fachpersonen aus Sozialer Arbeit, Bildungsarbeit, Alters- und Jugendarbeit, Pflege, Hospiz- und Palliativbereich, Gesundheitsförderung, Quartiersarbeit sowie Kulturarbeit und -vermittlung. Vor allem jene, die Erzählcafés bereits moderieren oder anbieten wollen, erhalten tiefgehende Einblicke in Praxis und Theorie. Das Buch ist ein Kooperationsprojekt des Institut Integration und Partizipation der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW und dem Migros Kulturprozent.
Herausgeberinnen:Gert Dressel, Johanna Kohn, Jessica Schnelle

Lesetipp von Annelies Jordi
Die Berge, das einfache Leben, Arbeit und Zugewandtheit zu den Menschen prägten das Leben von Marie-Therese Zimmermann, der diese Hommage gewidmet ist.
Wir begleiten die junge Frau vom Wallis über die Wüste in die Anden, wo sie im Norden von La Paz, Bolivien, ihre zweite Heimat fand. Unzählige Menschen kreuzten ihren Weg. Einige von ihnen und Marie-Therese Zimmermann selber erzählten der Autorin von Begegnungen und Erfahrungen, vom Reisen und Wirken, von Sorgen und Nöten und Lachen und Singen. Daraus ist ein Kaleidoskop von Geschichten entstanden.
Annelies Jordi ist Mitglied unserer Vereins und hat das vorliegende Buch verfasst. Weitere Infos findet ihr in ihrem Newsletter

Lesetipp von Lilian Fankhauser
In diesem Roman, der in der Hitze des sommerlichen Athens spielt, sammelt die Protagonistin, eine Schriftstellerin aus London, Lebensgeschichten und erzählt sie uns Leser*innen eine um die andere weiter. Beginnend mit dem Sitznachbarn auf dem Hinflug, seinen Schilderungen von schnellen Booten und gescheiterten Ehen, erzählen ihre Bekanntschaften aus ihrem Leben und diese Lebenserzählungen ergeben ein komplexes, ineinander verschlungenes Bild menschlichen Lebens. Jede einzelne Erzählung ist voller Intensität und Lebendigkeit, wie an einem Erzählcafé. Ein wunderbarer Roman voller Lebensgeschichten!

Lesetipp von Sibylle Lepschi
In ihrem sehr persönlichen Buch „Sterben im Sommer“ formuliert die preisgekrönte Autorin Erlebnisse und Gedanken anlässlich des Todes ihres Vaters Lászlo, der im Jahrhundertsommer 2018 im Alter von 85 Jahren starb.
Sehr eindringlich erzählt sie eigentlich nicht die Geschichte ihres Vaters, sondern ihre eigene Geschichte. Ihre Rolle als Tochter, für die die verbleibende Zeit mit dem sterbenden Vater eine ganz andere Bedeutung gewinnt. Auf sehr poetische Weise beschreibt sie in Rückblenden ihr „Kabinett der Erinnerung“, ihre „Ungarnsommer-Gedenkstätte“. Und am Ende kommt ein neuer Sommer, der nicht ist, wie die davor, aber eben auch ein Sommer ist.

Lesetipp von Lilian Fankhauser

Lesetipp von Sibylle Lepschi

Lesetipp von Daria Aebischer
Die Vielschichtigkeit und Entwicklung der Geschichte haben mich sehr beeindruckt. Das Buch ist ein literarisches Meisterwerk. Natascha Wodin erhielt bereits für das unveröffentlichte Manuskript dieses Buches, den Alfred-Döblin-Preis verliehen.
Das Buch erklärt auch auf eindrückliche Weise die Geschichte der Ukraine in den 1940er Jahren und 1944 die Verschleppung durch die Nazis nach Deutschland als Zwangsarbeiter:innen.

Lesetipp von Ann Schärer, Autorin und Alumna CAS Lebensgeschichten und Lebenserzählungen
Budapest im Zweiten Weltkrieg. Der Schweizer Vizekonsul Carl Lutz versucht, so viele Jüdinnen und Juden zu retten wie nur möglich. Darunter auch die hübsche Magda Grausz und ihre kleine Tochter Agi, heute Agnes. Obwohl seine Frau wenig begeistert ist, holt er die beiden in seine Residenz. Als Anfang 1944 die Luftangriffe so zahlreich und heftig werden, dass die Bewohnerinnen und Bewohner der Residenz permanent im Luftschutzkeller bleiben müssen, entwickelt sich eine zarte Liebe zwischen Carl und Magda. Während draussen der Krieg tobt, träumen die beiden von einer gemeinsamen Zukunft in der Schweiz. Und verändern damit nicht nur ihre eigenen Leben für immer.

Lesetipp von Sonja Scholz
“Und dann wurde mir bewusst, dass diese Geschichte nicht da beginnt, wo ich es geglaubt habe. Es gibt nicht den einen Ursprungsmoment, den man einfach ausmachen könnte. Die zeitliche Abfolge ist zu verzerrt und folgt nicht Jahr für Jahr simplen Wegmarken.”
6 Geschichten aus dem Leben einer Frau, die sich erinnert und erzählt. Ich erkenne mich wieder, immer wieder…

Lesetipp von Sonja Scholz
Schockierend, beeindruckend, berührend:
Jennifer Teege erfährt in der Mitte ihres Lebens, dass sie die Enkelin eines gefürchteten und sadistischen Nazis ist. Sie geht ihrer Geschichte nach und wechselt in ihrem Buch eindrücklich zwischen Erzählung und Berichterstattung ab.

Lesetipp von Sonja Scholz
Der Autor rekonstruiert die Biografien literarisch, die eigenständige Sprachmelodie entsteht durch die Lebensumstände der Protagonisten. Sie intoniert deren Alltag und die Fortführung ihrer Lebensgeschichte jenseits der Aktendeckel: So entsteht ein Lesebuch, das berührt.

Lesetipp von Lilian Fankhauser
Dieser «Briefroman» zeichnet die Liebe der Mutter zu ihrer Tochter nach, aber auch die zunehmende Angst und Verzweiflung der Mutter. Gabriel Heim liegen die Briefe vor, die Ilse von ihrer Mutter bekommen hat, die Briefe von Ilse sind nicht erhalten. Immer eindringlicher bittet Marie ihre Tochter, sie in die Schweiz zu holen, Ilse zögert, ist mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt. Die Verknüpfung dieser privaten Briefe mit den dramatischen historischen Ereignissen liest sich wie ein Kriminalroman und ist doch so feinfühlig und voller Empathie geschrieben.

Lesetipp von Sonja Scholz
Was sind die Merkmale des Erzählens, was die Funktion des biographischen Erzählens? Was ist über das Fiktive und Faktische in jeder Erzählung zu sagen (übertriebenes und sachliches Erzählen)? Diesen Fragen widmet sich diese Arbeit und beschreibt darüber hinaus, was die Art des Erzählens über den Erzähler selbst aussagt, denn Erzählung bedeutet immer bereits subjektive Interpretation.

Lesetipp von Lilian Fankhauser
David Denborough: Geschichten des Lebens neu gestalten. Grundlagen und Praxis der narrativen Therapie
Dieses Sachbuch basiert auf der «Charta des Rechts, Geschichten zu erzählen»: Jeder Mensch hat das Recht, seine Erfahrungen und Probleme mit eigenen Worten und Begriffen zu beschreiben.» Denborough entwirft in diesem für Einsteiger*innen geschriebenen Buch seine therapeutische Sicht auf lebensgeschichtliches Erzählen. Mit zahlreichen Beispielen aus der Praxis erläutert er, wie lebensgeschichtliches Erzählen eine heilende Wirkung entfalten kann. Besonders überzeugend sind die eingebauten Übungen, die der Leserin / dem Leser einen Einstieg für die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte ermöglichen.

Lesetipp von Franziska Eigenmann
Ingrid Riedel: Vom Geheimnis der zweiten Lebenshälfte. Frauen finden zu sich selbst.
Wenn Frauen die Schwelle der 40 überschreiten, wird vieles bald anders: Es kommt die Zeit, in der man nicht mehr ganz jung ist. Die Kinder werden gross und gehen aus dem Haus. In den 50ern, der Phase der Wechseljahre, verändert sich nicht nur der weibliche Körper. Für viele Frauen gibt es auch innerlich grosse Auf- und Umbrüche: Altes ist aufzugeben, neue Herausforderungen werden gesucht. In den 60ern, wenn das Loslassen schon länger eingeübt ist, können neue Freiheiten gelebt werden, geht es häufig um Sinnsuche und Sinnerfahrung. Die renommierte Jung’sche Analytikerin Ingrid Riedel beschreibt anhand vieler Beispiele, wie Frauen in der zweiten lebenshälfte neue Perspektiven auf sich selbst und die Welt entdecken. Ihr Buch ermutigt dazu, sich immer wieder auf Wandlung und Neuwerdung einzulassen.